Mehmet Akif Büyükatalay, Abitur Wintersemester 2008; Berlinale Preisträger 2019: Bester Erstlingsfilm
- Wie haben Sie von der Abendschule/ der Möglichkeit, den Abschluss nachzumachen, erfahren?
Durch einen sehr guten Freund, der damals auf der Abendschule seine Qualifikation nachholte. Er erzählte mir davon. Um ehrlich zu sein war auch BAföG ein Anreiz.
- Wie hat Ihr persönliches Umfeld reagiert (Freunde, Partner/in, Eltern, Kinder, Arbeitgeber)? Mussten Sie etwas vorbereiten und organisieren, um die Schule zu besuchen (z.B. Betreuung, Schichtwechsel etc.)?
Es war schon in gewisser Weise stigmatisiert. Als wäre der zweite Bildungsweg eine Niederlage, ein Ort für Leute, die es nicht geschafft hatten. Doch sie übersahen, dass gerade der zweite Bildungsweg eine erneute Chance für viele Schüler und Schülerinnen bedeutete, die aus persönlichen oder auch finanziellen Gründen den regulären Schulweg abbrechen mussten. Ich nahm das Rahel-Varnhagen-Kolleg als eine Form der Gerechtigkeitsherstellung wahr. Da wo familiäre oder gesellschaftliche Strukturen gescheitert waren, da wollte das Rahel-Varnhagen-Kolleg es irgendwie wiederherstellen.
Ich hatte in meiner Klasse junge Mütter, Schüler mit Depressionen, Eingewanderte aus anderen Ländern, deren Studium nicht anerkennt wurde, Frauen mit fünf Kindern, die nach einer Scheidung auf eigenen Beinen stehen wollten…. Sie alle hatten eine zweite Chance verdient und es auch genutzt.
Das wird sehr oft übersehen.
- Was war der Anlass/ Grund, einen Abschluss nachzumachen?
Ich wollte unbedingt studieren. Auch wenn ich nicht genau wusste, was ich studieren wollte, war ich mir ganz sicher, dass ich studieren wollte.
- Wie ging es weiter nach der Schule?
Ich habe mich schon in meiner Abiturphase an der Kunsthochschule für Medien beworben. Das lag auch an der Unterstützung der Lehrer und Lehrerinnen, vor allem durch meinem damaligen Deutschlehrer Herrn Prochaska. So begann ich direkt nach dem RVK Mediale Künste zu studieren.
- Im Falle eines Studiums: (Wie) ließen sich Studium und Berufstätigkeit vereinbaren? Wie konnten Sie das Studium finanzieren?
Erst bekam ich BAföG und ich habe diverse Nebenjobs gehabt. Anschließend bekam ich das Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, was mir eine finanzielle Freiheit bot und ich nicht mehr nebenbei Geld verdienen musste.
- In welcher Form hat Sie die Schule auf das nachfolgende Studium/Ausbildung vorbereitet?
Durch die unterschiedlichsten kulturellen Angebote und viele künstlerische Projekte habe ich mich schon vor meinem Kunststudium mit dem künstlerischen Ausdruck beschäftigen können. Es wurden Fotografiekurse gegeben, Workshops mit Literatinnen angeboten, Ausstellungen oder Kurzfilmwettbewerbe organisiert, wo ich auch meinen ersten Preis gewonnen habe. Das hat mich natürlich in meiner Entscheidung, den Weg der Kunst zu gehen, stark motiviert und es hat sich gelohnt. Vom ersten Preis beim Handyfilmfestival am RVK bis zum Preis auf der Berlinale und anderen internationalen Preisen.
- Was waren die schönsten Eindrücke der Schulzeit?
Die Offenheit gegenüber allen Schichten und Sprachen. Anders als auf dem Gymnasium, wo ich mit doppelter Diskriminierung („Türke“ und „Arbeiterkind“) zu kämpfen hatte und anschließend fliehen musste, war das RVK für mich eine wirkliche Befreiung. Der Umgang mit unterschiedlichsten Menschen, aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen hat mich menschlich bereichert und entwickelt. Es gab sehr interessante Menschen, die alle sehr viel erlebt hatten und doch noch weiterkämpften. Sie hatten nicht „versagt“ aus Faulheit oder Antriebslosigkeit, sie hatten viel erlebt, falsche Entscheidungen getroffen, waren psychisch instabil oder hatten nie Unterstützung aus ihrer Familie bekommen.
Diese Biografien, einige mit sehr harten Schicksalsschlägen, haben mich sehr beeindruckt.
Und es war natürlich auch oft sehr chaotisch, schwierig, aber oft sehr lustig. Es war einfach eine sehr menschliche Zeit.
Auch der fast freundschaftliche Umgang der Lehrkräfte mit den Schülern und Schülerinnen war für mich sehr ungewohnt. Ich spürte das Wohlwollen der Lehrenden. Ich hatte den Eindruck, sie machen ihren Job auch aus ideellen Gründen. Sie wollten den Schülern und Schülerinnen die Möglichkeit geben, mehr aus ihrem Leben zu machen.
Das sind Eindrücke, die mich noch heute begleiten und ich blicke dankend auf die Zeit zurück.
- Was würden Sie heutigen Studierenden des RVK mit auf den Weg durch die Schulzeit geben?
Seht das RVK als eine Möglichkeit an, Euch zu öffnen: für die Lebensläufe und Kulturen Eurer MitschülerInnen, für Eure Zukunft, die ihr bestimmen könnt. Auch wenn man es in der Zeit nicht bemerkt: Jeder kann aus seinem Leben sehr viel mehr machen, als die meisten negativen Mitmenschen Euch weißmachen wollen oder man selber glaubt. Und diese Möglichkeit bietet das RVK.