Rahel-Varnhagen-Blog

Geschichtsprojekt Stolpersteine

Stolpersteine und Patenschaft für ein Euthanasieopfer

Das Geschichtsprojekt unter der Ägide von Pablo Arias zieht weitere Kreise und wird spannend wie ein Krimi. Die Naziherrschaft ist inzwischen so lange her, dass Augenzeugen langsam aussterben und viele Unterlagen in den Kriegswirren verloren gegangen sind. So ist eine Menge Recherchearbeit in Archiven, Datenbanken und bei Institutionen vonnöten, bis tatsächlich alle gewünschten Informationen zu einer Person vorhanden und verifiziert sind.
Gehen wir zurück in das Hagen während der Nazi-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs: Die Menschen versuchen, ein weitgehend normales Leben zu führen, aber wenn man genauer hinsieht….
20. August 1933. Maria Hildebrand besucht ihrem Vater August Drefsen in seiner Wohnung am Wielandplatz 2. Ein Tag danach – es ist sein Hochzeitstag – findet man Drefsen erhängt, eindeutig Selbstmord. Aber warum? August Drefsen hatte es geschafft: Er kam nach Hagen als einfacher Maurer, arbeitet sich hoch bis zum Gewerkschaftsfunktionär und Ratsmitglied. Jemand spricht leise das Wort „Dachau“ aus. Gerücht? Wahrscheinlich, wäre nicht dieser gefälschte Totenschein…
Wilhelm Bohne hat in seinem langen Leben schon harte Proben überstanden. Seine drei Söhne Willi, Ernst und Heinrich, bekannte Nazigegner, wandern seit zwei Jahren durch verschiedene Gefängnisse und Konzentrationslager. Trotzdem trifft ihn der nächste Schlag schwer: Am 2.9.1935 wird ihm mitgeteilt, dass sein Sohn Heinrich sich in der Zelle mit einem Bettlaken erhängt hat. In der Leichenhalle findet er aber Spuren von schwerer Folter…

6. Juli 1942, Emst. Nur wenige Personen haben sich getraut, zur Totenmesse von Heinrich König zu kommen, obwohl ihm die Gemeinde ihre Kirche verdankt. Spitzel der Gestapo überwachen die Messe. Warum?
„…keiner weiß, wer der Nächste ist…“ so Ernst Putzki am 3. September 1943 in einem Brief an seine Mutter. Im selben Brief schreibt er: „Die Menschen magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen.“ Mit diesen Worten schildert der Wehringhauser Ernst Putzki die unmenschlichen Zustände in einer Todesanstalt für Menschen mit Behinderung. Seine Mutter kämpft, um ihn zu retten. Schafft sie es?
2.12.1944, Eckesey. Seit einem Jahr ist der Italiener Nicola Sinesi Gefangener der ehemaligen Verbündeten, der Deutschen. Hunger, Demütigungen und schwere Arbeit bestimmen seine Tage. Und warum antwortet seine Frau nicht auf seine Briefe? Als er in Gefangenschaft geriet, wurde er bald Vater. Sein Kind, er weiß nichts darüber, keine Nachricht kommt zu ihm durch. Ob es dem Kleinen gut geht? Plötzlich ertönt der Alarm. Fliegerangriff!! Der Bunker der Schmiedag ist zu weit, außerdem dürfen Sklaven den nicht betreten. Es bleibt der Splittergraben. Schon fallen die ersten Bomben…

Hagen-Halden, Dezember 1945. 12 Leichen werden gefesselt in einem Bombentrichter im Wald gefunden. Bald stellt man fest, dass der Mord in der Nacht des 12. April stattfand, als die Amerikaner schon vor Hagen waren. Unter denen findet sich der junge Soldat Eduard Dunker. Der Verdacht fällt auf die Hagener Gestapo…
Zurück ins Jahr 2018: Inzwischen ist Licht auf das Schicksal der ehemaligen Hagener Bürger gefallen, wenngleich noch einige Fragen nicht gänzlich geklärt sind. Um die Opfer des Regimes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, werden in Hagen die „Stolpersteine“ in der Nähe des letzten bekannten Wohnortes verlegt. Auf der Suche nach Sponsoren für diese Gedenksteine gibt es erste Erfolge, so dass bald, im Dezember 2018, auf diese Weise an den bei einem Bombenangriff auf Hagen-Eckesey umgekommene italienischen Zwangsarbeiter Nicola Sinesi und den Gewerkschaftler und Kommunalpolitiker August Drefsen erinnert werden kann. Drefsen war Mitbegründer der Gemeinnützigen Wohnungsbau- und Siedlungsgenossenschaft, die viele Gebäude in Altenhagen, Eckesey und Emst-Bissingheim errichtete. Auch für den Emster Vikar und Märtyrer Heinrich König, der im KZ an den Folgen medizinischer Versuche zur Wirksamkeit von Sulfonamiden starb, wird ein von der Gemeinde finanzierter Stolperstein verlegt.
Nicht nur politische Gegner wurden Opfer der nationalsozialistischen Diktatur. Ernst Putzkis Mutter hat es nicht geschafft, ihren Sohn zu retten. Der Hagener Bürger – eines von 1575 Opfern allein aus der psychiatrischen Klinik in Warstein – wurde aus der Heilanstalt zunächst nach Weilmünster und dann in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt, wo er angeblich an einer Lungenentzündung verstarb. Auf dem Gelände der Klinik befindet sich die Gedächtnisstätte „Treisekapelle“, die seit 1985 als Erinnerung an die Warsteiner Opfer der Euthanasie dient. Dort befindet sich eine Installation mit hinterleuchteten Schriftzügen, wo nun, nachdem das RVK die Patenschaft für dieses Opfer übernommen hat, sein Name sichtbar geworden ist.

Und die Suche geht weiter: In der sächsischen Stadt Torgau an der Elbe entstand während des zweiten Weltkriegs die Zentrale des Wehrmachtstrafsystems. Dort befinden sich die ehemaligen Militärgefängnisse „Fort Zinna“, das zwischen 1936 und 1939 zum größten und modernsten Gefängnis der Wehrmacht ausgebaut wurde und das Gefängnis „Brückenkopf“. Dort saßen u.a. Wehrdienst- und Befehlsverweigerer, Deserteure, aber auch Menschen, denen Spionage, „Wehrkraftzersetzung“ oder Ähnliches vorgeworfen wurde, sowie Angehörige des Widerstandes und Kriegsgefangene ein. Außerdem residierte dort mit dem Reichskriegsgericht die oberste militärische Instanz, die letztlich für eine Unmenge an Todesurteilen und daraus resultierenden Erschießungen zuständig war. Hierher führt die Spur zum Hagener Bürger Eduard Dunker, dessen Leben noch auf den „letzten Metern“ des Krieges endete. Was hat er sich zu Schulden kommen lassen? Hat der junge Soldat einfach nur ausgesprochen, was für jeden klar ersichtlich war? Wollte er desertieren? Kam der Erschießungsbefehl von höherer Stelle oder war es die Entscheidung eines verzweifelten regimetreuen Mannes vor Ort, dessen Welt des Tausendjährigen Reichs gerade in Scherben fiel und nach dessen Ideologie bis zum letzten Atemzug gekämpft werden musste? Finden sich in den Archiven irgendwelche Dokumente dazu? Fotos? Es bleibt spannend.